T S C H E R N O B Y L
   
  Die Folgen
 

Nur die Toten kehren zurück

Ein aktueller Lagebericht über den Besuch in der Todeszone

von Klaus Stein im Mai 2003
  Es war ein wunderschöner Maientag und die Sonne strahlte, als wir uns zur Fahrt in die gesperrte "Todeszone" von Tschernobyl aufmachten, die von den Einheimischen kurz "Zone" genannt wird. Wir, das waren die Mitglieder einer Reisegruppe aus der Pfalz, die alle aktiv in Tschernobyll-Hilfsvereinen mitarbeiten.  
      Schlagbaum zur Todeszone
       
  Mit von der Partie war auch Viktor, in dessen Haus ich bei meinem dritten Aufenthalt in der weißrussischen Kreisstadt Shitkowitschi wohnte. Er kennt sich in der Todeszone gut aus, denn er war Liquidator, einer von 850.000 Menschen, die nach der Reaktorkatastrophe 1986 zu Aufräum- und Säuberungsarbeiten in die verstrahlten Gebiete geschickt wurden. Viktor arbeitet bei einer Straßenbaufirma. Er war mit seiner Firma damals dahin geschickt worden, um die unbefestigten Straßen zu asphaltieren. Damit sollte verhindert werden, dass der radioaktive Staub beim Befahren aufgewirbelt wird. Natürlich hatte man ihm und seinen Kollegen nichts von der Gefahr gesagt, in der sie sich befanden, nur, dass halt irgendetwas passiert sei. Es wurden auch keine Schutzmaßnahmen ergriffen. Jetzt sind von den 90 Arbeitern von damals nur noch 18 am Leben und Viktor lebt täglich mit der Angst, dass auch er bald krank wird.  

Warnschild

Warntafeln zur Todeszone

       
  Als wir in Narowlia, der Kreisstadt des am stärksten verstrahlten Gebiets ankamen, waren wir von der Ordnung und Sauberkeit der Stadt überrascht. Während in den meisten Städten und Dörfern im Süden Weißrusslands der Zerfall offensichtlich ist, sieht es in der Stadt mit 9000 Einwohnern scheinbar nach heiler Welt aus. Während wir auf die offizielle Genehmigung zum Betreten der "Zone" warteten, die es im Rathaus gab, war Gelegenheit zu einem kleinen Stadtrundgang. Bei genauerem Hinsehen waren hinter den hübsch gestrichenen Zäunen zahlreiche leerstehende Häuser zu erkennen. Die Stadt machte auf uns den Eindruck einer schönen Frau, die von einer tödlichen Krankheit gezeichnet ist. Auf dem Markt sprach uns eine alte Frau an. Sie erzählte, dass es jeden Tag vier bis fünf Beerdigungen gebe. Das war sicher ein subjektiver Eindruck und etwas zu hoch gegriffen, aber ganz offensichtlich liegt diese Stadt im Siechtum und wird bald sterben.  

Gedenkstätte für evakuierte Dörfer

  Als unser Busfahrer mit der Genehmigung und dem offiziellen Begleiter Jevgeni aus dem Rathaus kam, ging es weiter zu dem evakuierten Dorf "Tischkov". Es ist eine von 37 Ortschaften des Kreises, die evakuiert wurden. Fünf davon wurden eingeebnet. Auf dem Weg dahin mussten wir zwei Schlagbäume passieren. Am zweiten Schlagbaum waren die Gebäude der inzwischen stillgelegten Dekontaminationsanlage zu sehen. Auch einige Feuerwehrfahrzeuge standen dort. Nach einigen Kilometern Fahrt kamen wir zu den ersten der 318 Gebäude des verlassenen Dorfes. Die Schule und das Kulturhaus, Mittelpunkt der weißrussischen Ortschaften, waren fast schon von der üppigen Vegetation zugewuchert. Bald wird die Natur auch die Straßen zurückerobert haben. Die Häuser sind leergeräumt, ja selbst die Stromleitungen wurden von den Masten abmontiert. Das Erschreckende aber war, dass dieses verlassene Dorf nicht zerfallener wirkte als viele der noch bewohnten Dörfer in der Region. Im Gegenteil, es war beinahe eine Idylle. Als wir zum Friedhof kamen, waren wir überrascht, dass er nicht verlassen wirkte. Es sah dort aus wie auf allen Friedhöfen im Land. Kurz zuvor am 6. Mai feierten die Menschen den orthodoxen Totengedenktag.  

 

Beerdigung in der Todeszone

 

 

  An diesem Tag gehen die Familien auf den Friedhof und essen gemeinsam mit ihren toten Angehörigen an den Gräbern. Verstorbenen Kindern werden Süßigkeiten aufs Grab gelegt. So war es offensichtlich auch hier geschehen. Auch wurden in den letzten zwei Jahren Menschen dort beerdigt. Für viele der in die großen Städte umgesiedelten Menschen ist es der letzte Wunsch, zumindest als Tote wieder in ihre Heimat zurückzukehren, sagte uns Jevgeni. Auf den 70.680 Hektar Kreisgebiet, die in der Sperrzone liegen, wurden die ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen teilweise aufgeforstet. Jevgeni erzählte uns, dass aus dem Wald Bäume gefällt werden. Das Holz ginge in den Export. Angeblich werde die Strahlenbelastung des Holzes kontrolliert und es werde die Rinde abgeschält. Die Frage der Ärztin Dr. Waltraud Jobst, die sich seit Jahren um die medizinische Hilfe in Weißrussland kümmert, ob für die Waldarbeiter Schutzmaßnahmen ergriffen würden, verneinte unser Begleiter. Es kämen auch immer wieder Menschen illegal in die "Zone", um dort Äpfel zu ernten und Beeren zu sammeln, sagte er uns. Vor der Katastrophe sei die Region mit ihrer lieblichen Landschaft und dem weißrussischen Schicksalsfluss "Pripjat" ein beliebtes Urlaubsgebiet für die Menschen aus den Großstädten gewesen, so Jevgeni.  

Verlassene Dörfer

  Auf der Rückfahrt erzählte uns Viktor, dass die Regierung in Minsk auch im Gebiet seiner Heimatstadt Shitkowitschi viel Holz schlagen lässt. Es ist der Rohstoff für eine Parkettfabrik, die ausschließlich für den Export produziert. Selbst jahrhundertealte Eichen, die bislang niemand angerührt hatte, seien fast alle verschwunden.Bei den Einheimischen komme von dem damit verdienten Geld nichts an. Im Gegenteil. Da der Staat beinahe bankrott ist, wurde die Förderung in einigen Teilen der Katastrophengebiete eingestellt - man erklärte sie kurzerhand zu nicht betroffenen Regionen. Damit bekommen viele Kinder wichtige Sanatoriumsaufenthalte nicht mehr bezahlt und auch im Gesundheitssystem gibt es gravierende nachteilige Änderungen. In Viktors Heimatregion sterben jetzt schon doppelt so viele Menschen wie geboren werden. Kaum jemand wird älter als 50 Jahre und die Friedhöfe sind die einzige "Wachstumsbranche" im Land. Er war nicht der Einzige, der uns voller Entrüstung vom Raubbau an der Natur berichtete. Selbst in einem Nationalpark werde der Wald abgeholzt, hörten wir immer wieder. Die Menschen sind so aufgebracht, dass sie sich sogar an einer Unterschriftenaktion gegen die Umweltzerstörung beteiligten - ein für Weißrussland sensationeller Vorgang.  

Verlassene Häuser

 

Um sich die Auswirkungen einer solchen Katastrophe wie Tschernobyl bei uns vorstellen zu können, muss man sich verdeutlichen, das bei einem Super-Gau im Kernkraftwerk Philippsburg Städte wie Frankfurt, Darmstadt, Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, Stuttgart, Kaiserslautern, Speyer und viele mehr in einer Todeszone liegen könnten, wenn man die Tschernobyl-Todeszone als Maßstab nimmt.

 
      Verlassene Zimmer
       
      Aktualisiert am: 12.11.2005